Ein Album, das Grenzen abschafft: Das Debüt des in Indien aufgewachsenen Perkussionisten ist mehr als nur ein überragendes Stück Kollektivimprovisation.
Jazz mag zwar „America’s original art form“ sein, ist aber weit davon entfernt, eine rein amerikanische Angelegenheit zu sein. Von seinen Anfängen als Mix aus afrikanischen Rhythmen und europäischen Liedstrukturen bis zu Ethiojazz, Afrobeat und Latin gehören traditionelle Elemente anderer Kulturen zur DNA des Jazz. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand Kollektivimprovisation und indischen Folk zusammen bringt. Day to Day, das Debüt des Perkussionisten Sarathy Korwar, füllt mit Leichtigkeit eine dieser Lücken, die man erst im Nachhinein als solche wahrnimmt.
Mithilfe der Steve Reid Foundation für „musicians in crisis“ und „emerging talents“ hat der in den Staaten geborene und in Indien aufgewachsene Korwar in Gujarat Aufnahmen der Percussiongruppe Sidi Troupe of Ratanpur gemacht. Die Sidi Gemeinschaft, so verrät es die Pressemitteilung, besteht aus Auswanderern, die bereits im 7. Jahrhundert von Ostafrika nach Indien zogen. Dementsprechend gemischt ist auch der kulturelle Hintergrund, den Day to Day mit jenen polyrhythmischen Aufnahmen, dem Gesang von Salim Gulammohommad und der mal improvisierten, mal geplanten Musik widerspiegelt. Für letztere sorgen neben Korwar an Drums und Tabla unter anderem Shabaka Hutchings von den Sons of Kemet und Cara Stacey, die mit Umrubhe und Uhadi zwei afrikanische Bogeninstrumente spielt.
Vom ersten Song „Bhajan“ an entfaltet sich Day to Day in all seinem Facettenreichtum: Bogen, ein indisches Mantra – „bhajan“ bedeutet „Hymne“ auf Hindi – und das freie Spiel von Bläsern und Schlagzeug. Wie ein goldener Faden in einem indischen Teppich zieht sich die elektronische Produktion, die Korwar über die Foundation von Four Tet und Gilles Peterson erlernt hat, durch „Bhajan“ und das komplette Album. Der Anfang von Day to Day erinnert in der Art, wie er einer Kamerafahrt gleich eine Landschaft vor dem Auge des Hörers eröffnet, an Sketches of Spain oder Orphaned Lands Mabool.
Die Stücke sind für sich genommen großartig: „Bismillah“ und „Mawra (Transcendence)“ belegen wieder einmal, weshalb Jazz die sozialste aller Spielformen ist; „Dreaming“, „Eyes Closed“ und „Lost Parade“ sind Ambientkompositionen, bei denen Korwar die Klänge der traditionellen Instrumente mit Geräuschen arrangiert, sodass die Klangwelt dreidimensional erscheint (für einen zeitgenössischeren Vergleich: „Mars“ von Sinkane); „Hail“ eröffnet die zweite Seite mit einer stark dramatischen Vocalperformance von Jaideep Vaidya, die darüber hinaus noch elektronisch verzerrt wird; „Infinite Leave to Remain“ wird besonders denen gefallen, die den Jazz über poppig-rhythmische Alben von the Bad Plus, GoGo Penguin oder Avishai Cohen entdeckt haben.
Aber du meine Güte, die Gesamtkomposition dieses Albums! Ungeachtet des geografischen Kontextes Indien/Ostafrika schafft Sarathy Korwar Grenzen ab – geografische, gattungsspezifische, solche zwischen jazziger Improvisation, verzaubernder Folkmusik und elektronischer Verzierung. Zwischen Unterhaltung und Kunst. Was die Grenzenlosigkeit dieser Musik betrifft, steht Day to Day Seite an Seite mit Darksides Psychic, Colin Stetsons New History Warfare Vol. 3, Brigitte Fontaines Comme à la radio oder Pharoah Sanders‘ Karma.
Beste Songs: Bhajan, Bismillah, Indefinite Leave to Remain
VÖ: 08/07 // Ninja Tune & Steve Reid Foundation
„Mawra (Transcendence)“: