Seit 1993 manifestiert Tocotronic einen Sound in der Indielandschaft, den man im positiven Sinne getrost als eigen betiteln kann. Nun veröffentlichen sie mit „Nie wieder Krieg“ ihr 13. Studioalbum. Darüber sprachen wir mit Sänger Dirk von Lowtzow.
Ängste gehören zum Leben dazu. Verwundbarkeit ganz bestimmt auch. Viele Menschen werden das in den vergangenen zwei Jahren der Pandemie intensiver bemerkt haben. Tocotronics Frontmann Dirk von Lowtzow geht es nicht anders. Doch bereits vor 2020, als die Welt in einen Corona-Tiefschlaf versank und die Songauswahl für „Nie wieder Krieg“ bereits abgeschlossen war, beschäftigte er sich mit seelischer Zerrissenheit. Eine Vorahnung? Das möchten er und seine Band sich nicht auf die Fahne schreiben. So große Propheten seien sie dann doch nicht.
Und dennoch passt vieles von dem, was sie auf ihrem 13. Werk besingen, in die heutige Zeit. Und auch wenn es im Hagelschauer der schlechten Nachrichten oft nicht auffällt: Es gibt sie, die Momente der Hoffnung und der Liebe. In ihrem oft liebevoll verworrenen Songwriting seziert die Band auch diese Augenblicke.
Was auf „Nie wieder Krieg“ zusammenläuft, sind donnernde Rocksongs, die musikalisch in Teilen an „The Hamburg Years“ erinnern und flüchtige Stimmungen der Gegenwart ausloten. Insbesondere aber auch Balladen, die sich mit offenem Visier in die Unsicherheit der heutigen Zeit stürzen und sich durch eine fabelhafte Magie behutsam an die geschundene Seele der Pandemie schmiegen.
Auf „Nie wieder Krieg“ lösen nicht wenige herzzerreißende Songs eine beruhigende Zufriedenheit aus. Dirk, bist du selbst eigentlich auch berührt von eurem Songs?
Würde ich von mir selbst sentimental berührt sein, wäre das eitel und auch ein bisschen ekelig (lacht). Aber ich weiß ungefähr, was du meinst. Ein ähnliches Gefühl habe ich bei Liedern, an deren Entstehung ich mich heute nicht mehr genau erinnern kann (Album bereits lange fertig, Amd. d. Red.). Dazu gehört „Ich tauche auf“. Für mich ist das ein Song, der fast wie aus einem Traum geboren ist. Rückblickend bin ich selber davon überrascht und frage mich, wie das eigentlich zustande gekommen ist. Aber es war so: Uns kam die Idee, dass man ihn als Duett aufarbeiten könnte. Dann konnte es nur mit „Soap&Skin“ sein, weil wir sie als Künstler:innen total verehren. Als Anjas Mail mit ihren Gesangsspuren aus Wien kam, dachte ich „Wow, da geht nochmal eine ganz andere Tür auf.“ Es ist bei mir häufig der Input von außen. Es gibt diese Momente, in denen wir selbst Baff sind von dem was wir, aber auch die Leute, die lange mit uns zusammenarbeiten, da fabriziert haben. Das ist ganz fantastisch.
Neben „Hoffnung“ und „Nie wieder Krieg“ schießt mir da der Song auch als erstes in den Kopf. Dabei verstehe ich die Lyrics nicht mal. Wobei ich das auch gar nicht möchte.
Und genau das mach Lyrik ja auch aus. Es gibt immer in gewisser Weise Geheimnisse, aber man wird sie allein nicht komplett lösen können. Aber sie schaffen es, einen zu berühren. Auch wenn man sie vielleicht nicht bis zur letzten Stelle hinter dem Komma auflösen kann. Und das ist die Magie, die solche Songs umgibt. Für mich ist es manchmal ähnlich, weil ich mich selbst frage, wie das eigentlich zu mir gekommen ist. Habe ich das vielleicht geträumt? Oder hat mir das irgendjemand eingeflüstert?
Ich finde es bemerkenswert, dass eure Songs auf unerklärliche Art und Weise positive Twists schaffen, obwohl sie häufig Einsamkeit oder Ängste behandeln. Warum sind diese Themen für euch so wichtig?
Wenn du mich als Musiker fragen würdest, warum ich Songs schreibe, dann würde ich sagen: Diese Ängste sind der Grund. Innere Zerrissenheit, Aggressionen oder Ängste sind die Dinge, die viele Menschen umtreiben. Wenn ich das in Worten verbalisiere, dann ist da die Hoffnung, dass das irgendjemand hört, der das teilt. Der vielleicht mitfühlen und dem ich dadurch etwas mitteilen kann.
Es sind manchmal auch Hilfeschreie, das kommt ja in einem Song („Ich gehe unter“) auch vor. Damit verbunden ist das Streben nach Anteilnahme, aber vielleicht auch nach einem Exorzismus der gemeinsamen Ängste. Ich glaube Popmusik kann das: Irgendjemand schreibt etwas, andere hören es und da gibt es dann vielleicht die absurde Hoffnung, dass man dadurch die Angst ein bisschen aus der Welt schafft.
Die Songs des Albums hattet ihr schon vor der Pandemie fertig. Mit Blick auf Ängste und Einsamkeit allerdings ein gutes Timing.
Ja, wie du richtig gesagt hast, handeln viele unserer Stücke von Isolation, vom Gefühl der Gemeinsamkeit, aber auch von der Angst vereinnahmt zu werden und derlei mehr. Und wenn man sich solchen Themen hingibt, dann ist natürlich die Trefferquote in Zeiten der Pandemie sehr, sehr hoch. Ich glaube allerdings, dass unter diesem „Brennglas Pandemie“ betrachtet sehr vieles eine andere Bedeutung bekommt. Wenn man jetzt eine Band wäre, die hauptsächlich Partysongs macht, dann hätte man diese Songs in der pandemischen Zeit auch anders gedeutet. Vielleicht eher als ein Abgesang oder ähnliches. Also ich glaube, es fällt ganz schwer, Literatur, Filme und Songs – weil sie so unmittelbar sind – nicht unter diesem Corona-Aspekt nochmal abzuklopfen oder zu beleuchten.
„Wir streben nach einem Exorzismus gemeinsamer Ängste“
Was sollen eure Songs denn sonst noch auslösen?
Ich empfinde es als sehr schön, wenn die Leute sagen, sie können über unsere Songs auch lachen. Das habe ich jetzt ein paar Mal gehört und das ist auch ganz und gar angemessen. Vieles von dem, was wir machen schwankt zwischen Komödie und Tragödie. Ohne das eine ist das andere nicht denkbar. In unserer Musik ist viel Witz. Auf eine gewisse Art sind wir fast eine humoristische Band, auch wenn man das auf den ersten Blick vielleicht nicht direkt sieht. Aber wenn mir Leute sagen, bei dieser oder jener Zeile mussten sie ganz herzlich lachen – das finde ich persönlich sehr, sehr schön.
Das ist mir bei diesem Album auch tatsächlich passiert. Was mir auch aufgefallen ist: „Nie wieder Krieg“ ist meiner Meinung nach etwas abstrakter als „Die Unendlichkeit“ (2018). Ist das Absicht?
Eigentlich arbeiten wir intuitiv, es gibt wenig Vorsätze. Wenn wir ein paar Stücke zusammen haben, dann ist es eine sehr schöne Arbeit, sich zu überlegen: „Könnte das jetzt noch weiter gehen?“ oder „Fehlen dort noch ein paar Bausteine“. Da können wir an einer Gesamtdramaturgie arbeiten und haben einen Überblick über die Gesamtausrichtung des Albums. Da ergänzen wir uns in der Band sehr gut. Wir sagen uns vorher also nicht, ob das Ganze eher kryptischer oder erzählerischer wird. Ich finde, es hält sich bei dem Album die Waage. Es gibt sehr erzählerische Stücke, die fast vertonte Kurzgeschichten sind, z.B. „Nie wieder Krieg“. Das Stück hat in den Strophen fast drei Geschichten, die durch den Refrain verbunden sind. Auf der anderen Seite gibt es Stücke, die so eine eher assoziativ, düstere, gespenstische Gesamtstimmung transportieren. Der zweite Song „Komm mit in meine heile Welt“ ist ein gutes Beispiel dafür. Dort wird keine unmittelbare Narration erkennbar.
Auf Albumlänge liest sich „Nie wieder Krieg“ wie einen kleiner Roman oder ein Film. Da gibt es eine Bestandsaufnahme der Gesellschaft, die Tocotronic-typische Flucht, das Verschwinden und ein versöhnliches Ende der Liebe und Hoffnung.
Wir haben Übung darin, Stücke so zusammenzusetzen, dass es einen roten Faden ergibt. Aber es ist auch sehr viel Glück dabei. Ich persönlich finde es im Streamingzeitalter aber auch wichtig, dass man sich das etwas überlegt.
Das sind wir den Hörer:innen schuldig. Wenn sie sich die Mühe machen, das Album von Anfang bis Ende durchzuhören, dann sollte es schon irgendeine sinnvolle Dramaturgie geben. Was für eine Geschichte sich dann ergibt, das bleibt dem „Film im Kopf“ der Hörer*innen überlassen. Ich stelle mir das oft so vor: Anhand dieser Songs könnte man einen Film drehen. Die Songs sind der Soundtrack und markieren Wendepunkte in der Handlung. Oder sie unterstreichen bestimmte Vorgänge. In der Albumproduktion führen wir uns das als Band vor Augen und arbeiten ganz bewusst darauf hin.
Dabei startet ihr erneut mit drei starken Parolen, für die ihr ja auch bekannt seid: „Nie wieder Krieg“, „Komm in meine freie Welt“ und „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“. Warum?
„Nie wieder Krieg“ ist da vielleicht wirklich ein gutes Beispiel. Das ist, wie es oft bei uns ist, eine Aneignung. Man kennt diese Parole von dem ikonisch gewordenen Plakat von Käthe Kollwitz aus der Weimarer Republik, aus der Zwischenkriegszeit. Und das kam mir in den Sinn. Ich dachte, es wäre eine gute Möglichkeit, diese politische Parole für innere Vorgänge zu nutzen: den Krieg, den man gegen sich selbst führt. Aber auch für all die äußeren Einflüsse, denen man als vulnerabler Mensch ausgesetzt ist. Es handelt von Menschen, die – so habe ich mir das zumindest immer vorgestellt – in einem verzweifelten Zustand mit sich sind. Und dann gucken sie in den Spiegel und schreien dort hinein. Solche Überlegungen stehen da zunächst. Irgendwas kommt mir in den Kopf und dann baue ich darum eine Erzählung.
Ähnlich wie bei früheren Tocotronic-Stücken.
Genau, z.B. „Let There Be Rock“. Das ist ebenfalls eine Aneignung und das Lied hat mit der Parole eigentlich gar nichts zu tun. Aber zusammen ergibt sich vielleicht eine spannende Begegnung zwischen narrativen Elementen und der Parole. Eine gerade auch in der Diskrepanz interessante Begegnung.
Und so arbeiten wir dann weiter. Wie du eingangs richtig gesagt hast, hat der erste und titelgebende Song der Platte „Nie wieder Krieg“ etwas sehr beruhigendes, schönes, harmonisches. Das Stück endet mit den Worten „Nie wieder Krieg in dir, in uns, in mir“. Doch genau danach geht eben der Krieg los. „Komm mit in meine freie Welt“ beginnt als zweiter Song mit einem wahnsinnig krachigen A-Moll-Akkord. Es wird die ganze Zeit dronig gehalten. So ergeben sich manchmal solche Reihenfolgen, durchaus auch musikalisch, bei denen man sich denkt: Das ist jetzt genau das Richtige. Das ist jetzt die Antithese zu dem vorherigen.