Mit Traumwelten und Waldinseln, einer Zeitmaschine und einem Acid-Trip als Remix-Album
Keine drei Wochen mehr, bis wir unter dem Tannenbaum wieder allerlei Freude und Stirnrunzeln finden. „Cool, die Morrissey-Biographie, die wollte ich immer schonmal haben!“ oder „Wer zum Teufel ist dieser Mumford und warum macht der Bluegrass mit seiner Familie?!“ So oder so ähnlich wird man Weihnachten mit seiner musikalisch stilsicheren Familie verbringen und Wham! in Dauerschleife hören. Damit ihr für die Adventszeit voller schlechter und weniger guter Weihnachtslieder gewappnet seid, präsentieren wir euch zum zweiten Mal die Alben des Monats. Die besten November-Releases für auf den Wunschzettel:
2:54: The Other I
„Come My Way„, folge uns in die tiefen des kalten Waldes. Folge uns in die Pforten des Post-Punks. Dieses Gefühl wollen Colette und Hannah Thurlow vermitteln. Zwar ist nirgends explizit die Rede von einem Wald und noch viel weniger von Kälte und doch schaffen die strengen Gitarren und der mystische Gesang eine kühle Stimmung, die das Interesse des Hörers gleich weckt. Kühl bedeutet im Fall von 2:54 keineswegs langweilig, sondern eher aufgeregt, wie ein pochendes Herz, mit Angst erfüllt. Ja, man verbindet irgendwie keine sympathischen Eigenschaften mit The Other I und gerade das ist es, was die Platte so aufregend macht.
Azealia Banks: Broke With Expensive Taste
Das Warten hat sich gelohnt. Zwei Jahre zu spät ist das Debüt von Azealia Banks nun endlich da und macht enorm viel Spaß. Zwar gibt es keine neuen Songs, die mit dem derben „212“, Banks‘ erster und bester Single, vergleichbar wären. Doch von Funk („Gimme a Chance“) über alle möglichen elektronischen Spielarten wie Garage („Desperado“), Trap und House bis hin zu „Nude Beach a Go-Go“, der Surf-Rock-Kollaboration mit Ariel Pink – die junge Harlemite setzt ihren Rap (und den echt ansehnlichen Gesang!) auf alle möglichen Vorlagen, wie sie gerade Lust hat. Broke With Expensive Taste mag mit seinen 60 Minuten lautem, Haken schlagendem Hip-Hop zuerst wie eine tour de force erscheinen, aber das freche Selbstbewusstsein und die kompromisslose Experimentierfreude – Broke With Expansive Taste? – machen einen schnell abhängig.
The Coral: The Curse of Love
Lange haben the Coral um den Sänger James Skelly sich Zeit für The Curse of Love genommen, denn eigentlich sollte die Platte bereits 2006 in Angriff genommen werden, wurde dann aber durch eine interne Hinwendung zum Garagenrock links liegen gelassen. Ein Fehler, wie die Band nach Jahren wohl selber erkannt hat. Zwar hat The Curse of Love durchaus seine komplizierten Stellen, was aber eher dazu führt, dass man die Songs nicht so vor sich hin plätschern lässt. Immer wieder werden gekonnt Akzente gesetzt und so fällt man mit dem mittlerweile achte Studioalbum in eine aufregende, stimmungsvolle Traumwelt.
Cult of Youth: Final Days
Neo-Folk, Post-Industrial oder Black Punk? Alles, liebe Leser, Final Days ist all das zusammen. Dass ein Song namens „Todestrieb“ der am leichtesten zu verdauende eines Albums sein kann, passiert auch nicht alle Tage. Womöglich ist bald aber aller Tage Abend, wenn man dem prophetischen Gebrülle von Sean Ragon und der generell apokalyptischen Stimmung von Final Days Glauben schenkt. Alles am vierten Album des vom Soloprojekt zur Band mutierten Kults schreit „Das Ende ist nah, kommt zur Besinnung!“, inklusive des Turms zu Babel auf dem Cover. Vom tiefschwarzen Geschrammel auf „Empty Faction“ bis zum versöhnlichen Ende („Roses“) ist Final Days eine kathartische Reise, von der man vom Weltschmerz geheilt zurückkommt.
Hookworms: The Hum
Kompliziert kann so einfach sein. Nach dem Motto ist die neue Platte der Band aus dem Norden Englands aufgebaut. Songs wie „Radio Tokyo“ sind beispielsweise wirr und doch poppig zugleich und lassen einen schnell mit den Füßen stampfen. Man will mehr und mehr und man bekommt mehr. Trotz des größeren Budgets sind die fünf Musiker ihrem DIY-Stil treu geblieben und haben in der kalten Jahreszeit eines der heißesten Rockalben des Jahres geschaffen. Die Platte dient nämlich gleichzeitig auch als Art Zeitmaschine. So reisen die Einflüsse von The Velvet Underground bis hin zu Primal Scream und enden bei Bands wie LCD Soundsystem oder den Psychedelic-Pop-Bands. Mit einer solchen Platte sind die Kaiser Chiefs wohl bald nicht mehr die erfolgreichste Gitarrenband aus Leeds.
Savages & Bo Ningen: Words to the Blind
Words to the Blind, ein halb-improvisiertes, live aufgenommenes Kollaborativ-Album von Savages und der japanischen Acid Punk Combo Bo Ningen, beginnt mit einem Spoken Word Teil auf Japanisch und Französisch (gleichzeitig!). Nach und nach türmen sich Instrumente auf, die Stimmen von Jehnny Beth und Taigen Kawabe geistern wortlos darüber hinweg. Auf einmal wird man sich bewusst, dass es einen durchgängigen Rhythmus gibt – wo kommt der denn her? Die Grenzen verschwimmen auf dem Album, das aus einem einzigen 37-minütigen Song besteht. Der Krach setzt ein und aus, die beiden Bands wechseln sich ab wie bei einem Gitarrenduell, nur mit wüstem, unmenschlichem Noise Punk anstatt schöner Soli. Langsam klingt alles aus, nur damit ein letzter Schub Chaos doch noch alles zerstört. So macht man Jazzcore.
Something Anorak: Tiny Island
Tiny Island ist das Debütalbum der Gebrüder Barrett aus Bristol, klingt aber mehr nach amerikanischem Wald. Je weiter das Album fortschreitet, desto mehr Einflüsse werden offenbar. Grizzly Bears Lo-Fi Gestalten bekommen bald Besuch von Angel Olsen und ihren weirden Freunden von Animal Collective und Mount Eerie. Der erste „Boah alter!“ Moment kommt auf „The Dolphin“: ein Drumfill, ein Gitarrenschimmer, und ab geht es in Two Gallants‘ basslastige Härte. Tiny Island wirkt aufgrund der Assoziationen, die es hervorruft, sofort vertraut, dabei aber nie kopiert. Alles sitzt an seinem Platz, die Lo-Fi Gitarren, das rumpelnde Schlagzeug, der raue Gesang (der ein bisschen an Doldrums erinnert) und beizeiten eine ordentlich harte Kante von Ty Segall und Converge. Zu viele Vergleiche für ein unvergleichlich grandioses Album. Hört es lieber selbst, ich verzieh mich auf die winzige Insel.
Temples: Re-Structured
Oftmals sind Remix-Alben pure Geldmacherei seitens des Labels. Im Falle von Temples ist dies jedoch ein wenig zu relativieren. Diese nehmen uns nämlich mit auf ihren Trips durch große Soundräume und allerlei Träumereien. Die Abgedrehtheit der jeweiligen Songs hat phasenweise die Wirkung der in den 60er Jahren beliebten, kleinen Tablette. Beim Anhören der neun Songs schwirrt einem irgendwie immer der Name Jim Morrison durch den Kopf und ja das Album ist durchaus soundtechnisch als Hommage an „The End“ von The Doors zu nehmen. So ist Re-Structured also deutlich mehr als nur ein pures Remix-Album. Es ist ein Acid-Trip vom allerfeinsten geworden, der einem beim Anhören die schönsten Farben und Wellen in die Augen zaubert und das alles ohne Angst vor einem Drogentest haben zu müssen.
The Voyeurs: Rhubarb, Rhubarb
The Voyeurs haben sich mittlerweile nicht nur bei ihrer Namensgebung, sondern auch bei der Musik auf das Wesentlich beschränkt. Die Band, die früher noch Charlie Boyer and The Voyeurs hieß, hat mit ihrem neuen Album Rhubarb, Rhubarb ein richtiges psychedelisches Spaßalbum hingelegt. Es ist ein Sound, der zum Second-Hand-Shoppen animiert. Mal ringelt man sich im klassischen Walzerschritt durch den Laden, mal im flotten Tanzschritt und schwingt dabei seine Haare durch die Luft. Mit Rhubarb, Rhubarb beweisen the Voyeurs, dass nicht nur die Labelkollegen Temples zu glaubwürdigem Retro-Sound im Stande sind.
Wildbirds & Peacedrums: Rhythm
Mariam Wallentin und Andreas Werliin sind nicht besonders subtil, was Titel angeht. „The Offbeat“ und das dazugehörige Album Rhythm sind dermaßen lakonisch, dass man sie erst einmal für Arbeitstitel hält. Auch der Bandname, Wildbirds & Peacedrums, ist kein Ausbund an Kreativität, bestehen ihre Songs doch aus kaum mehr als Werliins Schlagzeug und Wallentins vielschichtigem Gesang. Aber Me and My Drummer haben ja hierzulande das gleiche gemacht, und die sind ja auch nicht schlecht. Wildbirds & Peacedrums sind noch karger, aber auch noch besser. Das Album ist eine Herausforderung, ein perkussives Kunstwerk, das sich, einmal gemeistert, immer wieder öffnet und Neues offenbart. „Everything is happening all the time,“ singt Wallentin zum Schluss. Nach Rhythm hat man Kopfweh. Und drückt wieder auf Play.
Fichon & Yannick