Die Norwegerin Marie Ulven ist gerade mal 22 Jahre alt. Und doch macht sie sich bereits einen Namen in der weltweiten Musiklandschaft. Mehr noch: Sie wird Leitfigur der internetaffinen „Gen Z“. Nun erscheint ihr Debütalbum „if i could make it go quiet“. Wir haben uns mit „girl in red“ über die LGBTQ+ Community, Selbstfindung und die kleinen Dinge des Lebens unterhalten.
New York City, Sao Paulo oder Moskau: Auf riesigen, roten Plakaten oder Bildschirmen mit schwarzer Schrift ist „Do you listen to ‚girl in red‘?“ zu lesen. Der Name ist von nun an weltweit bekannt. Und die Frage ein Code, groß geworden in der jungen, queeren Szene, um jemanden nach der sexuellen Orientierung zu fragen.Zurückzuführen ist das auf Marie Ulvens ersten großen Hit aus dem Jahr 2017. In „we fell in love in october“, aber auch in anderen Songs, verarbeitet sie ihre Erfahrungen mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Instagram und später auch TikTok explodieren, die kritische Musikpresse lobt ihre Musik in den Himmel.
Auch ihre zwei EP’s („Chapter 1 & 2“) und zahlreiche Singles im Bedroom-Pop/Lo-Fi-Gewand sind unglaublich erfolgreich. Doch jetzt denkt die Künstlerin noch größer. Auf ihrem Debüt „if I could make it go quiet“ (VÖ: 30. April via world in red/AWAL) bricht sie weitestgehend aus dem DIY-Sound aus und macht einen Schritt nach vorm. Sie liefert mächtige und hochqualitativ produzierte Pophymnen, die sich allerdings nicht komplett von dem „girl in red“-Charme verabschieden.
Verrat, Depression oder Sehnsucht: „girl in red“ besticht auch weiterhin durch gnadenlose Ehrlichkeit. Mit „if i could make it go quiet“ kreiert sie Songs für die ganz großen Bühnen und findet eine Sprache, die universell ist und unterschiedlichste Menschen eint. Sie zementiert ihr Standing sowohl in in der Musik, als auch in der Popwelt generell. Doch was macht all das mit einer 22-Jährigen?
Musst du dich eigentlich manchmal kneifen, um zu begreifen, was die letzten Jahre in deinem Leben abging?
Es ist alles ziemlich verrückt. Aber da es ja mein Leben ist, bin ich daran gewöhnt. Wenn ich dann mal etwas Abstand von all dem nehme und zurückblicke, ist das wirklich unglaublich. Dafür bin ich sehr dankbar, ich hätte nie gedacht, dass sich das so entwickeln würde.
Du bist noch vor deinem ersten Album zu einer Symbolfigur für die LGBTG+ Community und für die queeren Menschen geworden. Wie hast du den ganzen „Do you listen to ‚girl in red‘?“-Hype empfunden?
Ich habe das definitiv verfolgt. Ich meine, wir haben Plakate auf der ganzen Welt aufgehängt. Es ist einfach super cool, dass das jetzt ein Ding geworden ist. Irgendwann war dann der Zeitpunkt erreicht, an dem ich zu mir selbst gesagt habe: „Oh mein Gott, du bist jetzt ein ‚Urban Dictionary‘“. Das zu beobachten macht wirklich Spaß.
Erzeugt das für dich auch einen gewissen Druck, so als Vorbild der „Generation Z“?
Nicht wirklich, ich gehöre ja selbst zu dieser Generation. Und man darf nicht vergessen, dass ich erst 22 Jahre alt bin. Es ist gerade mal drei Jahre her, dass ich die Schule beendet habe. Ich meine, was kann ich schon wissen? (lacht) Ich möchte eher, dass die Leute so denken: „Ich finde für mich heraus, was ich machen möchte, genauso wie es ‚girl in red‘ für sich selbst tut“. Dieser Ansatz ist besser. Weil ich auch eben erst 22 Jahre alt bin. Das ist super jung. Früher, als ich 16 war, dachte ich, ich wäre in diesem Alter weise. Aber das bin ich nicht.
Hast du da Tipps für die Leute in deinem Alter? Wie können sich junge Menschen selbst finden?
Nehmt euch Zeit, ihr Süßen. Es ist euer Leben, also setzt euch nicht unter Druck. Und ganz ehrlich: Gewissermaßen hoffe ich für euch, dass ihr es nie komplett herausfindet. Ich meine, wenn man ein Gefühl dafür entwickelt, ist das super. Aber irgendwie werden wir nie genau wissen, wer wir sind, weil wir uns doch ständig verändern. Also macht euch keine Sorgen, es wird sich alles finden.
Hast du ein Vorbild in der Queer-Community?
Nicht wirklich. Jede queere Person ist ein Vorbild. Mich inspirieren Menschen, die tun, was sie wollen – Menschen, die ihr Leben voll ausleben und ihr eigenes Ding machen.
Das gilt ja auch für dich. Auf deinem Debüt gibst du dich öffentlich sehr verletzlich. Musstest dafür eigene Grenzen überwinden?
Ich denke, dass ich einfach so bin. Ich möchte diese Ehrlichkeit nach außen tragen. Ich bin eine offene Person und vertraue den Menschen eigentlich sehr schnell, weil ich immer das Beste von ihnen denke. Da ist also dieser wichtige Teil von mir, der sich denkt: „Die Leute werden es schon kapieren“. Ich mache mir keine Sorgen, dass sie es missverstehen.
Mit was setzt du dich genau auseinander?
Es geht um meine mentale Gesundheit. Also sowohl um die guten, als auch die schlechten Seiten. Ich muss akzeptieren, wenn die eher schwierigen Zeiten überwiegen, aber da ich generell ein hoffnungsvoll bin, sind es eh meist die guten Seiten. Ich verarbeite aber auch all das, was im Leben eines jungen Menschen passiert: Liebe, Herzschmerz, Verlust und Sex.
Also gibt es keinen Unterschied zwischen „girl in red“ und Marie Ulven?
Ich glaube, es ist die selbe Person. Wobei ‚girl in red‘ schon noch energetischer auf der Bühne ist. Ich kann ein sehr energiegeladener Mensch sein in manchen Situationen.
Das merkt man auch bei deinem Album, das etwas weg geht von dem Lo-Fi/Bedroom-Pop eher hin zu einer fetten Produktion. War es wichtig für dich, diese teils schwierigen Themen in energiegeladene Sounds zu manifestieren?
Persönlich höre ich traurige Musik nicht so gerne. Versteh mich nicht falsch, ich mag schon auch Songs, die sad sind…nur meistens wird mir das dann schnell zu viel. Aber vielleicht kommt die Phase noch, in der ich mich an einen traurigen Sound wage.
Aktuell bist du allerdings eher beim Rappen angekommen. Zumindest auf dem Song „Serotonin“. Wie kam es dazu?
Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, weshalb ich rappen wollte. Irgendwann flogen diese Ideen durch meinen Kopf und ich finde, in der Umsetzung hat es geklappt. Ich denke, ich klinge immer noch wie „girl in red“ und nicht wie jemand, die gerne eine Rapperin sein möchte. Ich kann mehr als so zu klingen, wie es die Leute von „girl in red“ gewohnt sind. Dafür musste ich nichtmal meine Komfortzone verlassen, weil ich es selbst so unbedingt wollte. Ich möchte mich einfach immer wieder selbst herausfordern.
Für den Song hast du sogar mit dem GRAMMY-Produzenten und Bruder von Billie Eilish FINNEAS zusammengearbeitet. Wie war das?
Es war wirklich gut. Ich habe ihm den Song zugesendet, weil ich gerne noch etwas Input haben wollte. Und er war super entspannt. Wir haben uns den Song dann immer wieder hin und her geschickt, bis er dann so geworden ist, wie er nun klingt. Und laut ihm sagte Billie auch, dass sie den Song sehr mag. Ich selbst habe mit ihr allerdings noch nicht gesprochen.
Das klingt nach einer spannenden Zeit. Was nimmst du aus den vergangenen Monaten für dich mit?
Ich habe gelernt, dass ich eine Produzentin bin. Also das war ich vorher auch schon, nur jetzt nach meinem Debüt sage ich es voller Stolz. Abgesehen davon habe ich gelernt, dass ich mich mehr disziplinieren und mehr auf mich achten muss. Und ich habe gelernt, besser mit meiner Angst umzugehen – mein Hund hilft mir da sehr.
Wenn wir schon über „Serotonin“ sprechen. Was macht die glücklich?
Wenn ich meine Freund*innen sehen kann. Das ist mir erst in der vergangenen Zeit deutlich geworden. Und natürlich meinen Hund. Abgesehen davon versuche ich das allerdings noch herauszufinden. Zuletzt war es stressiger wegen der ganzen Arbeit. Aber jetzt kann ich sagen: Aktuell bin ich sehr, sehr glücklich – vielleicht so glücklich wie nie zuvor. Aber auch die Definition von Glück wechselt im Verlaufe eines Lebens.
Und live spielen, das sagst du ja immer wieder. Aber wie sieht dein Leben nach Corona, der hoffentlich bald kommenden Tour und allgemein nach dieser Platte aus?
In erster Linie möchte ich irgendwann zurück ins Studio und an neuer Musik arbeiten. Ich versuche jetzt schon herauszufinden, wie der Sound sein könnte. Aber natürlich möchte ich insbesondere auch meine Freund*innen sehen, also mal wieder richtig leben und neue Inspirationen bekommen. Das vergangene Jahr war nicht sehr inspirierend, so geht es mit Sicherheit vielen Künstler*innen. Es ist einfach ganz wichtig unter Leuten zu sein. Dadurch bekommt man neue Ideen. Aber ja: Ich möchte insbesondere auch einfach mal wieder richtig leben, weißt du? Ein Bier mit meinen Freund*innen, Wandern gehen hier in Norwegen und einfach ein Touri in meiner Heimat sein. Ich gebe mich da mit einfachen Dingen zufrieden.
Und wo siehst du deine heutige Rolle in der Musikszene?
Ich hoffe sehr, dass ich als aufstrebende Künstlerin angesehen werde, weil ich das Gefühl habe, gerade erst anzufangen.
Wo möchtest du mittel-/langfristig hin?
Madison Square Garden.
Uh, gibt es da bereits Pläne?
Noch nicht (lacht). Aber dort möchte ich spielen. Und ich will zu den Grammys. Ja, ihr hört richtig: Ich gehe die Scheisse an!