Über mangelnde Bekanntheit können sich AnnenMayKantereit nicht beklagen. Dank der prägnanten Stimme Henning Mays und den emotionalen Liedern spricht die Band ein großes Publikum an. Auf ihr letztes Album vor zwei Jahren folgte nun ohne jegliche Ankündigung „12“. Gelungen oder missglückt? Darüber lässt sich streiten.
„Alles was wir haben, kommt irgendwo aus der Vergangenheit“, nuschelt Henning May aka „die Stimme“ im Intro des MayKant… Kantereitann… AnnenMayKantereit-Albums „12“. Aha, ok, deep. Ist das ein Zitat von Hermann Hesse oder war das von Eckhart Tolle? Beide gerade schwer gefragt bei den Millennials. „So wies war, so wird es nie wieder sein“. Oha! Diese Nostalgie, die Programm der neuen Langspielplatte ist, kennt man vielleicht aus den neuen Bundesländern oder von unseren Großeltern: „früher war alles besser“. Aber jetzt ist Corona und Corona ist voll doof und macht uns alle voll traurig, die wir in unseren weiträumigen Altbauwohnungen bei Cappuccinos aus der eigenen Siebträgermaschine im Zoom-Meeting hocken.
Kleiner Spoiler: Richtig, es wird nie wieder sein wie es mal war – und das ist vielleicht auch besser so. Deal with it. Wir brauchen kein weiteres Zeitzeugendokument, in der die eigene Betroffenheit ausgedrückt wird. Was wir brauchen ist Solidarität und Achtsamkeit miteinander, konstruktive Worte und Taten, um diese Zeit zu überstehen und die neue Ära nach dem Umbruch anzugehen.
Aber was erwartet man auch von einer Band, die stolz erzählt, ihre Musik noch selbst zu schreiben und sich dann immer wieder nur um die Bauästhetik ihrer eigenen vier Wände und Familienkonstellation dreht. Mit dem vorangegangenen Album „Schlagschatten“ fand das Kölner Quartett zu seiner politischen Stimme, um doch mal mitzureden bei den nicht zu ignorierenden Tragödien auf dieser Welt. Mit ihrer „erfrischenden“ Mischung aus sentimentaler Pianomusik und politischen Schlachtrufen *hust* eint die Band Fridays for Future-Teens mit Lagerfeuer-liebenden Hippies und flunkyball-spielenden Festivalgängern, die „Wonderwall“ durch „Pocahontas“ ersetzt haben.
„Ich will mehr“, fordert ihr. Jo, ich auch. Mehr Tiefgang, mehr Ambition, mehr Message. Ist das Kunst oder kann das weg? Das neue Album wirkt derart dahin gefurzt, als wäre die gefühlte Antrieblosigkeit auch Motor hinter der Produktion gewesen. In „Die letzte Ballade“ erklingt eine Wehklage, die ich nicht packe. Solch Pseudo-Poesie, wie sie in Poetry Slams mittlerweile en vogue ist, erzeugt schlicht Langweile. Aber tut ja nicht weh in seiner Belanglosigkeit. Wenn „12“ ein Konzeptalbum zum Durchschlafen sein soll, Chapeau! Corona? Hab ich nicht mitbekommen, denn dank AnnenMayKantereit hab ich es einfach verschlafen. Weckt mich auf, wenn der Spuk vorbei ist. (HvD)
AnnenMayKantereit zu bashen ist leicht. Weiße Jungs aus der Mittelschicht, die sich größtenteils mit ihrem eigenen Hang zur Sentimentalität und den diffusen Zukunftsängsten der Millennials auseinandersetzen. Sicher lassen sich Henning Mays biedere Sehnsüchte nach Zweisamkeit in einer frisch sanierten Altbauwohnung als Ausdruck einer privilegierten Wohlstandsgesellschaft kritisieren. Eine Kritik, die häufig von studierten Akademiker:innen in Berliner Altbau-WGs formuliert wird. Verzeiht die Verallgemeinerung. Aber mal ehrlich, wer vertritt im deutschen Pop schon radikale utopische Ideale?
Vielleicht habe ich meinen Anspruch in dieser Hinsicht schon auf ein Minimum reduziert, aber es ist auffällig, wie unterschiedlich die angelegten Maßstäbe in Bezug auf eine politische Haltung an Bands und Musiker:innen sind. Im Zuge der #wirsindmehr Proteste 2018 wurde Helene Fischer für ihr viel zu offensichtliches Statement gegen Rassismus gelobt und die Rapperin Sookee wird kritisiert, weil ihre Texte eher nach Soziologie-Proseminar als nach – nach was überhaupt? – klingen. Auch wenn bei AnnenMayKantereit auf „12“ wieder die Lust am Privaten überwiegt, lässt sich die politische Haltung nicht übersehen. Die Musiker sind sich ihrer eigenen Privilegien bewusst und verorten sich selbst auf der satten Sonnenseite des Weltgeschehens, während Moria brennt und Menschen im Mittelmeer ertrinken. Das ist wenig revolutionär, aber immerhin ein Minimum an Haltung, was in der hiesigen Pop-Landschaft nicht selbstverständlich ist.
Jetzt haben AnnenMayKantereit ein neues Album veröffentlicht. Unangekündigt, über Nacht. „12“ heißt das gute Stück und beinhaltet 16 Songs auf nur 37 Minuten. Die üblichen Hits suchen wir darauf vergeblich. Stattdessen haben wir ein Album, dem die Corona-Pandemie schon in der Struktur eingeschrieben ist. Die Produktion ist roh und erinnert in ihrer Ungeschliffenheit eher an aufgenommene Live-Sessions der Band, bei denen ein Field-Recorder die komplizierte Mikrofonierung ersetzt hat. Es kratzt und knarzt im Vordergrund, manche Songs erreichen nicht einmal die Länge von einer Minute und die Drums verhallen irgendwo im Echo des jeweiligen Aufnahmeraumes.
Das klingt nach allem, aber nicht nach dem dritten Studioalbum einer der größten Bands des Landes. Vielleicht ist das wahnsinnig mutig, vielleicht aber auch völlig logisch. Genres wie Bedroom Pop mit ihrer Lo-Fi Ästhetik und die Zugänglichkeit von Produktionssoftware deuten schon lange auf einen Abgesang auf bombastische Hochglanz-Produktionen hin. Und einen Mangel an Konzertbesucher:innen durch fehlende Hits braucht die Band wahrscheinlich nicht zu befürchten.
AnnenMayKantereit haben sich auf „12“ mit dem eigenen Erleben während der Pandemie auseinandergesetzt. Natürlich kann ich nicht für alle sprechen, aber wie haben wir dieses Jahr wahrgenommen? Klopapier und Dosentomaten gehamstert, während in Instagram-Stories George Floyd wieder und wieder ermordet wurde. Manche haben in Pflegeheimen geschuftet, manche wurden durch Corona-Soforthilfen vor der Privatinsolvenz gerettet und andere haben sich vor Liebeskummer in ihre Ikea-Bettwäsche geweint. Ob mit oder ohne Pandemie, das Leben findet immer zwischen privaten Befindlichkeiten und weltpolitischem Geschehen statt. That’s it: AnnenMayKantereit. (JD)