Alle Jahre wieder beginnt im Mai eine Zeit in der Trunkenheit am Tage, Sonnenbrand in besorgniserregendem Zustand und Konzerte unter freiem Himmel ahnen lassen: Die Festival Saison ist eröffnet. Seid’s dieses Jahr so gut: Nehmt euren Müll mit heim, jagt euren Mitmenschen alle Stunde einen Liter Wasser wenn nötig intravenös ins System und an alle Typen, die immer noch nichts kapiert haben: Nein heißt fucking Nein. Achja, hier unsere Lieblingssongs des Monats.
Ben Howard – Nica Libres At Dusk
Mit der dritten Veröffentlichung vor dem Erscheinen seines dritten Studioalbums „Noonday Dream“ ist „Nica Libres At Dusk“ die erste Single, der Ben Howard auch ein Video hinzufügt. Staubtrocken ist es, ein Songwriter, der einsam Wüstenschutt mit den Stiefeln vor sich her tritt, auf unbefahrenen Bergstraßen wandert, im blauen Himmel ein paar Vögel, mehr ist da nicht außer dem Mann aus dem Westen Londons und dem besten Song seit seiner sieben minütige Hymne an die Verzweiflung des Auseinandergehens „The End of the Affair“. Howard hatte laut eigener Aussage nach seinem zweiten Album „I Forget Where We Were“, das die Unbekümmertheit und den Optimismus seines Debüts „Every Kingdom“ durch dunkle Melancholie und schmerzverzerrte Gitarren ersetzte, schwer damit zu kämpfen gehabt, dem Bühnendruck Stand zu halten und die Ausdrucksform seiner Kunst in Frage gestellt. Vielleicht habe er einfach ein Dichter sein wollen, Gedichte schreiben, den Zehntausenden vor den britischen Festivalbühnen endgültig entgehen, so der mittlerweile 30 Jährige. Auf „Nica Libres At Dusk“ sind es neben der atmosphärisch dicht gehaltenen Untermalung nun eben genau die Bilder von blutendem Zahnfleisch, gewisperter Unendlichkeit und zehn Zigaretten, die Howards Musik besonders machen. Es ist noch Platz in der Nische neben Patti Smith, Leonard Cohen und Nick Cave, diesen singenden Poeten.
Gurr – Hot Summer
Nach fünfzehn Minuten auf dem Fahrrad drückt die Körpernässe von Achseln und Rücken durch dein neues T-Shirt und das Sommerkleid, das eigentlich so luftig ausgesehen hat, klebt irgendwie noch bevor es wirklich Mittag wird am köchelnden Leib. Eis schmiltzt und verklebt deine Finger, die Straßenbahn riecht nach Menschen, von denen alle dreißig Sekunden der nächste über die warmen flatternden Lippen erschöpft wie ein Gaul ausatmet. Es ist ganz eindeutig: Der Mensch mag hierzulande für die Akkumulation des Kapitals gemacht sein wie die Kakerlake für schimmlige Stellen in defekten Geschirrspülmaschinen, im Sommer aber weist die Almanya Edition unserer Spezies ihren Grunddefekt in glänzender Gänze auf. Hier ein paar Tipps aus einem der besten Videos des bisherigen Jahres wie man, laut Gurr, den Sommer ganz famos verbringen kann: 1. Beim Oralverkehr ungehemmt in den bei Hochtemperaturen köstlich erfrischenden Teller Kartoffelbrei greifen, um so dem ganzen Spaß auch eine kulinarisch aufregende Note zu verpassen. 2. Nach dem Genuss eines Tages voller Selbsterfüllung im Büro sich einfach mal mit dem Kopf nach unten im Pool treiben lassen. Wer am längsten die Luft anhält, bekommt den nächsten Tag frei. 3. Auf der nächsten Gartenparty der WG, die du über zwei Ecken kennst, die Snacks nicht sofort in dein gieriges und von Alkohol und Weiterem angeregtes Mäulchen verfrachten, sondern einfach mal alle vier Hosentaschen, sofern vorhanden natürlich, bis zum Platzen vollmachen. Verbessert deinen Eigengeruch umgehend und wer sich für größere Aufgaben berufen fühlt, schreckt auch vor Käsesoße und Blätterteigtaschen nicht zurück.
Arctic Monkeys – Four Out Of Five
Die größte zeitgenössische Rockband der letzten zehn Jahre kehrt nach fünf Jahren mit einem neuen Album zurück. In den sozialen Netzwerken wird sich, vielleicht auch auf Grund der fehlenden Voraberscheinungen, aber vor allem über die Gesichtsbehaarung des Sängers eben jener Arctic Monkeys der virale Mund fusslig geredet. Das Album erscheint, in Großbritannien und überall sonstwo ist man sich einig: Dieser Sheffielder Sänger namens Alex Turner schreibt wie es niemand sonst vermag. Was an Witz schon in „Cornerstone“, an Charme schon in „Suck It and See“, und an Coolness in „Do Me A Favour“ vorhanden war, findet auf „Tranquility Base Hotel & Casino“ endlich soviel Platz wie nie zuvor. Was eben auch bedeutet, dass die Moshpits für die neuen Songs wahrscheinlich geschlossen bleiben, bietet Turner eine Weite an Möglichkeiten, seine Musik gänzlich um den Text herumwachsen zu lassen und so ist das neue Album voller wiederkehrender lyrischer Motive, die „Tranquility Base Hotel & Casino“ eher wie eine geschlossene Novelle des Autors Alexander David Turner erscheinen lässt, als dass es das befürchtetete Stadionrock Album wird, das die Kings of Leon, eine der weiteren Gruppen dieser ehemaligen Indiebands, die nun vor Zehntausenden spielen und sich über 2000 Pfund Strafen wegen Rauchens auf der Bühne nicht mal mehr ansatzweise kümmern, beispielsweise bereits zum dritten Mal in Folge gemacht haben. Turner & Co. sind von Einfachheit und Haudrauf-Gegröhle weiter weg denn je zuvor, auch „Five Out Of Five“, das vielleicht eingängigste Stück des Albums, erscheint in dystopischen Kubrick Visuals, während der Sänger mit der Gesichtsbehaarung zum Verweilen auf dem Mondkrater Clavius einlädt. So unvorstellbar und unzugänglich sei es gar nicht, singt er eindringlich, die kleinen süßen Läden schießen aus dem Boden wie die Pilze und die kalte Hand der Gentrifizierung streckt sich von Kreuzberg in die Schwerelosigkeit.
Beach House – Lose Your Smile
Beach House gehen auf „7“, dem siebten Album, das gleichzeitig die 77 Songs ihrer bisherigen Diskografie voll macht, nicht nur was mystische Zahlenspiele angeht in die Vollen. Wo auf den Vorgängern immer wieder zur musikalisch-minimalistischen Restriktion zurückgekehrt wurde, finden sich jetzt großflächige Arrangements aus Drums, Synthieflächen und der üblichen Dopplung der Vocals von Sängerin Victoria Legrand. Für Songs wie „Lose Your Smile“ ist nicht mehr ein Schlafzimmer, eine Bettdecke über dem Kopf oder eine einsame Zigarette auf einem nächtlichen Balkon die Bühne, auf der Beach House ihre Wirkung entfalten, es ist die Weite eines Science Fiction Films, betrachtet in einem großen Kinosaal, der von Fluoreszenz und Wellen voller Emotion geflutet werden kann. Nie war das Duo näher am Rausch von Shoegaze, was nicht nur der Stimme Legrands, sondern auch den Gitarren Alex Scallys eine Breite an Möglichkeiten verschafft, ihren originellen Dreampop Klang eindrucksvoller auf die große Bühne zu heben. So zu sehen und zu genießen gewesen zum Beispiel auf dem letztes Wochenende zu Ende gegangen Primavera Sound in Barcelona.
Leon Bridges – Forgive You
Wo eine Stimme für die Schwere des Blues gemacht wird, 60s Jazz auf einem Debütalbum Kritikerinnen und Fans in Staunen versetzt und auf der Bühne mit selbstsicherer Coolness getanzt wird als gäbe es das Wort „Publikum“ nicht, veröffentlicht ein Sänger aus Texas, der zufälligerweise alle oben genannten Attribute in sich und seiner Musik vereint, ein Liebeslied, das in seiner Emotion vielleicht genau so aus nur dem Blues und dem Soul kommen konnte. „Forgive You“ ist eine Ausnahme auf Bridges zweitem Studioalbum „Good Thing“, für dessen Tour im Winter Konzerte in London und Paris bereits jetzt ausverkauft sind. Eine Ausnahme deswegen, weil es musikalisch so wenig mit dem zu tun hat, was Bridges auf seinem Debüt den Ruf eines modernen Soulsängers mit dem Gespür der 60er Jahre eingebracht hat. Neben „Shy“ ist „Forgive You“ nämlich vor allem eins, gute Popmusik mit Hang zum Kitsch. Wenn schon zu Beginn über eingängigen Drums gefragt wird „Did I not love enough, to keep your attention on and on? Am I the stupid one?“, dann sind es vor allem klare Verzweiflung und offene Irrationalität, die die Ballade so herzzerreißend machen. Lyrisch hat man alles um „I forgive you, though my friends tell me not to“ sicher schon zu Genüge gehört, es ist Bridges Stimme und die sanfte Komposition aus ruhiger Gitarre über Synthies und Drums, die dieses Liebeslied niemals fad oder unehrlich wirken lassen, sondern es zum romantischen und ruhigen Mittelpunkt eines zweiten Albums machen, auf dem sich der 28 Jährige von der konstanten und doch arg repetitiven Reminiszenz an vergangene Vorbilder und Klänge befreit und zu einem individuellen und authentischen Stil aufbricht.
Snail Mail – Let’s Find An Out
„I would love people to just listen and not to be so obsessed with the fact that I’m a girl, or that I’m gay, or eighteen. Being a girl is not a genre.“, so Lindsey Jordan über die ihr zu Beginn des Jahres entgegenkommende Welle der Euphorie, in der sie medial zumeist mit Musikerinnen wie Soccer Mommy oder Girlpool in einem Atemzug genannt wird, was in der verallgemeinernden Natur der Aussage der Kunst jeder Künstlerin individuell die Eigenständigkeit raubt. Jordans Low-Fi Gitarrenrock überzeugt vor allem mit melodischen Refrains, ehrlicher Lyrik über gefühlte Unzulänglichkeit und nicht nachlassenden Herzschmerz und der Stimme der Sängerin, die auf ganz unangestrengt natürliche Weise eine Tiefe besitzt, die ihre Texte direkt umzusetzen vermag. „Let’s Find an Out“ ist nach den ersten beiden Veröffentlichungen „Pristine“ und „Heat Wave“ der erste Song des am achten Juni erscheinenden Debütalbums „Lush“, der auch ohne die für die ersten beiden Songs so entscheidenden Gitarrenriffs auskommt. Jordans Songtexte sind in der metaphorisch untermalten Klarheit ihrer Aussagen eigentlich als hätte man eine gute Freundin, die dir von ihrem Sommer erzählt als würde sie ihn im Kopf aufgeschrieben haben. Auf rot glühenden Juni folgt das simple Unverständnis in „Something that’s lost belongs to you. If someone should pay for it, I don’t know how who“, womit Jordan an die so intelligente Einfachheit in „Pristine“ („Don’t you like me for me?“) anknüpft und den glücklicherweise schamlosen Kitsch in „Heat Wave“ („Swirl in the white evening sun, tell me that I am the only one“) zum zart und originell aufblitzenden Motiv ihrer Texte macht. Bevor am Freitag nun ihr erstes Album erscheint, hat Snail Mail bereits auf Europas Bühnen in Amsterdam, London und Paris gespielt, eine große USA Tour nach Release steht kurz bevor. Und überall sind wahrscheinlich alle ganz gespannt, von Lindsey Jordan erzählt zu bekommen, wie es so ist, das Herz gebrochen zu bekommen. Dabei weiß man das doch oder? Oder?
Father John Misty – Please Don’t Die
Auf „pointless benders with reptilian strangers“ durch das Reich des Todes. Von einem Grab ins Nächste, knochige Arme greifen kalt und leblos nach lebendigen Fingern und die Natur ist bereits voraus gegangen, verdorrt und ausgebrannt. Eine durchaus düstere Metapher entwirft Father John Misty im neuen Video zu seiner Single „Please Don’t Die“, die Ende Mai vor der Veröffentlichung seines diesjährigen Albums „God’s Favourite Customer“ erschienen ist. Was visuell zwar für die Musik des Songschreibers typisch bewusst ironisch gehalten umgesetzt wird, beschreibt dunkle Momente im Leben eines Ausgezehrten, den wahrscheinlich nur noch die Liebe zum Geliebten/ zur Geliebten über der Erde hält. Und da kommt die stark an Emma Tillman erinnernde Rettungsfigur in Weiß vielleicht wirklich im letzten Moment gerade recht, um dem Tod sprichwörtlich von der Schippe zu springen. Was bereits auf „I Love You, Honeybear“ seine Texte bestimmt hat, kehrt auf „God’s Favourite Customer“ zurück und so ist das gerade erst erschienene vierte Studioalbum Tillmans erneut wieder voller Liebeslieder an seine Ehefrau, gewohnt selbstironiesierend und sarkastisch ausformuliert und bereit dazu, auch mal einen oder zwei Meter in die Wellen des Pathos hinzufallen. Der Witz ist sensibler geworden und der Nihilismus aufgeweicht in zuneigungsvoller Emotion. Gehüllt in einfache Melodien und wenig spektakuläre Arrangements ist Joshua Tillman auf seinem neuen Album so ehrlich wie noch nie.
Childish Gambino – This Is America
Es ist eines der spannendsten Videos der letzen Jahre, man muss sich die halbe Stunde Zeit nehmen, um die mehr oder weniger hintergründigen Metaphern dieses Bilderpuzzles von Donald Glover allesamt nur wahrzunehmen. Die Recherche lohnt sich, also los los, ab durch die erkenntnistheoretischen Möglichkeiten des Internets.
Iceage – Beyondless
Entstiegen aus einem Kopenhagener Stadtfriedhof jagen Elias Bender Rønnenfelt und seine Band Iceage auf ihrem im Mai erschienenen Album „Beyondless„ durch Beckett Poesie und Exzesslyrik, um so die beste Musik ihrer noch jungen Karriere zu machen. Wo beim Live Auftritt im Publikum Schweiß, Ellenbogen, Spucke und Geschrei ausgetauscht wird und Rønnenfelt sich hemmunsogslos in eben jenen Sog aus Ekstase wirft, ist es doch jede Sekunde spürbar, dass dem Punk hier ein wenig mehr entlockt als nihilistische Katharsis. Wut, Unverständnis und ein Auge für die alltägliche Bosheit des gemeinen Individuums finden sich in Texten wieder, die nicht zum Mitgrölen auf den Festivals dieser Musikwelt gedacht sind, sondern einer poetischen Abhandlung gleich mehr vorgetragen werden. Und so erscheint es nur logisch, wenn in Songs wie „Take It All“ oder dem Titeltrack „Beyondless“ der atmosphärischen Weite der Vorzug vor der Eingängigkeit eines Gassenhauers wie „The Lord’s Favourite“ gewährt wird. Iceage erweitern nicht nur ihr klangliches Bild um Bowie-Avancen und vielfältigen Instrumenteeinsatz, sondern gehen vor allem lyrisch auf mehr Originalität und Tiefe zu.