Simon Graupner liebt es, Rockstar zu sein. Musikalisch am liebsten in der dreckigsten Ecke der Indieszene. Auf dem Dockville Festival erlebt er als Shelter Boy einen Tag des Zusammenhalts und der Liebe zum Rock’n’Roll.
„Ich habe dich so lieb, alter!“ Der Sänger Simon Graupner grinst, dünne Adern prägen sein verschwitztes Gesicht. Er fällt seinem Leadgitarristen Ernie Fizz in die Arme. Im Hintergrund verschmelzen tausende Stimmen, Schreie und Rufe in einem akustischen Wimmelbild. Als sich die Freunde voneinander lösen, kneift Graupner Fizz in die Wange. Er trinkt einen Schluck aus seinem Bier, ehe seine Augen weiter umherirren. Das Ziel ist klar: das nächste Bandmitglied oder besser, der nächste Freund. Es ist 18 Uhr. Simon Graupner, Shelter Boy, hat gerade eine Show auf dem Dockville-Festival beendet. Eine, von der er noch lange sprechen wird.
Über 60.000 Musikfans tummeln sich in diesem Jahr auf dem Dockville in Hamburg-Wilhelmsburg vor der einzigartigen Hafenkulisse. Es ist ein Festival, das fest in der Indieszene etabliert ist. Und nun findet es erstmals nach der Corona-Pause wieder in vollem Ausmaß statt. Die Pandemie hat die Musikszene schwer getroffen: Monatelanger Lockdown, kaum Konzerte und auch 2022 laufen die Ticketverkäufe vieler Shows – insbesondere in der Indieszene – miserabel.
UK als Shelter Boys musikalische Sozialisation
Doch für Graupner ist es auch die Zeit, in der er sein Hobby zum Beruf machen will. Sein Debütalbum „Failure Familiar“ kommt 2021 heraus. Er will den Rock’n’Roll Lifestyle, will die Ekstase auf der Bühne und die Euphorie nach dem Gig. Schon im frühen Jugendalter hört der heutige Mittzwanziger The Kinks, The Beatles oder The Who. Mit 14 Jahren dann spielt er in einer Britpop-Band. Arctic Monkeys, The Maccabees und Co. – all diese Bands sind sein Leben: „Das ist die Musik, die zuerst mein Herz erreicht hat“.
Es ist 15.15 Uhr. Noch fast zwei Stunden bis zum Gig. Nur der Lichtkegel eines Kühlschranks erhellt den kleinen Raum. Er befindet sich im Obergeschoss in einer Art Jugendheim, welches als Backstage dient. Die Wände sind mit schwarzen Tüchern abgehängt, Fenster gibt es keine. „Mache ich heute den Pete Doherty? Oder doch eher den Alex Turner?“ Die fünfköpfige Band, die Graupner liebevoll die „Shelly Family“ nennt, flachst herum, umarmt sich und ahmt in einem akkurat britischen Akzent ihren Idolen nach.
Graupner schlüpft in die Ärmel seines weißen Mantels, der an Oasis-Bruder Liam Gallagher erinnert, dann greifen seine Hände nach dem Kragen. Das schwarze T-Shirt stopft er in seine knöchellange Jeans, die die weißen Tennissocken in dunkeln Doc Martens sichtbar macht. Das Outfit steht, UK-lastig ist es geworden, eben ganz wie ein astreiner Lad von der Insel.
Graupner verlässt den Raum anschließend. Neben ihm läuft Fizz in einem grauen Anzug. Er greift mit einer Hand nach der Schulter seines Bandkollegen, schüttelt ihn und küsst ihn auf die Wange. Die gelblichen Backsteinwände des in die Jahre gekommenen Hauses sind mit Graffiti besprüht, an den Glastüren klebt Absperrband in schwarz-gelber Farbe. Graupner biegt kurz vor der Treppe zur altbackenen Toilette ab: „Alter, was hat Billie Eilish wohl gesagt, als sie hier auf Klo gegangen ist?“ Der Superstar war 2019 der Hauptact des Festivals.
Den Status hat Shelter Boy noch nicht: keinen Mega-Hit am Start, aber dennoch eine gewisse Fanbase in der Indieszene. Drei seiner Songs haben bei Spotify bereits die Millionenmarke geknackt. „Es steckt viel Arbeit dahinter, wir haben auch schon viel Scheisse gespielt“, lacht er. „Und dennoch verdienen wir jetzt ein bisschen Geld mit der Musik, was absurd ist“. Nebenbei arbeitet der gebürtige Zwickauer in einer Leipziger Kneipe. Während der Festivalsaison weniger, in der Hochphase von Corona schiebt er dafür deutlich mehr Schichten. Finanzielle Sorgen beschäftigen ihn heute nicht. „Unsicherheiten hat man als Musiker immer“, sagt er. „Ich bin überzeugt von meinen Songs“.
Es ist 16.15 Uhr. 55 Minuten bis zum Auftritt. In einem weißen Zelt hinter der Bühne lagern die Instrumente, Roadies wuseln umher. „Gehört der Karton hier zu euch?“, ruft einer hinein. Karlo Colucci – Bassist von Shelter Boy – nickt ihm zu. Er zupft die Saiten seines Instrumentes weiter. Triple B – Schlagzeuger der Band – hievt Bassdrum, Snare und die Toms auf eine fahrende Bühne.
Ernie Fizz und Cadillac Carl laufen auf und ab. Sie haben ihre Gitarren umgehängt und spielen darauf herum. Als sie die Instrumente weglegen, zünden sie sich eine Zigarette an. Sie atmen tief ein und halten kurz inne. Fizz schaut zu Cadillac Carl, dann zum Gitarrenständer. „Smash?“, fragt Fizz. „Ich weiß nicht, ob sich das heute lohnt“, führt er fort. In einer Halterung stehen insgesamt fünf Gitarren bereit. Eine blaue ist lädiert, Teile von ihr mit weißem Tape beklebt. Das Konzert auf dem Sziget Festival in Budapest einige Tage zuvor hatte sie noch überlebt.
Graupner öffnet sich derweil ein Hustenbonbon. „Wie lange noch bis zum Auftritt? Muss überlegen, wann ich die Lemocin nehme, damit die zeitlich am besten ballert“. Wenige Meter entfernt dampft sein Ingwertee, daneben liegen Taschentücher und ein Nasenspray. Graupners Hals kratzt, erst seit einigen Wochen kämpft er mit den Nachwirkungen einer Mandelentzündung.
Es ist 16.55 Uhr. Fünf Minuten bis zum Gig. In einem engen Kreis stehen Ernie Fizz, Triple B, Karlo Colucci, Cadillac Carl, Tourmanager Morten Baumann und Simon Graupner zusammen. Im Takt trampeln sie mit ihren Füßen auf die Behelfsrampe hinter der Bühne. Das dumpfe Poltern wird schneller und schneller. „Hey, was geht ab? Wir feiern die ganze Nacht“, rufen sie hinter der Bühne. Sie grölen den Partytrack der Atzen, lachen sich kaputt und wuscheln sich durch die Haare. Mit einem „Alerta, Alerta, Antifaschista!“ findet das Bandritual seinen Höhepunkt.
Graupner lässt sich auf den Boden fallen, fängt sich mit den Armen ab. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben schnelle Liegestützen später springt er wieder auf. Er trabt die Rampe hoch zur Seite der Bühne, dreht seine Wasserflasche zu. „Let’s go“, ruft Triple B. Die Band rennt los, weit über tausend Menschen brüllen vor dem Vorschot – der zweitgrößten Bühne des Festivals. Die Show beginnt.
Euphorie greift aufs Publikum über
Es ist 17.55 Uhr. Dichte Staubwolken umhüllen die zweitgrößte Bühne des Dockville. Graupner schwebt auf Dutzenden Händen über die Köpfe des Publikums. Sie berühren ihm am Hintern, krallen sich an seinen Schultern fest oder schlagen gegen seine Füße. Seine Arme wirbeln umher, gerade so schafft er es, seine Hände zum Mund zu führen und Luftküsse zu verteilen. Nach wenigen Augenblicken tragen ihn die Hände zurück auf die Bühne. Tourmanager Baumann greift nach der bereits lädierten Gitarre. „Ihr wisst was jetzt passiert“, sagt er zu einem Roadie, streckt seine Zunge heraus und bringt die blaue Gitarre zu Fizz. Dieser grinst breit. Graupner schaut sich um. Alle bereit? Ab geht’s. Das große Finale.
„Well, shake it up, baby, now. Twist and shout“, singt Graupner in das Mikrofon, während er seine weiße Gitarre hochreißt. Zu seinen Füßen rennen Musikbegeisterte aufeinander zu. Sie brüllen den großen Beatles-Hit mit und schubsen sich in einem Moshpit umher. Knappe zwei Minuten später poltern mehrere Schläge auf der Bühne. BAM, BAM, BAM, BAM, BAM, BAM, BAM, BAM, BAM, KRACHZ. Beim zehnten Schlag ist der Sound weicher. Die blaue E-Gitarre zerschellt in Dutzende Teile. Ja, der „Smash“ hat sich heute gelohnt – und diese Show wird der Band in Erinnerung bleiben.
„Live zu spielen ist einfach das absolut schönste der Welt“, sagt Graupner nach dem Konzert. Er steht in dem weißen Zelt hinter der Bühne und raucht eine Zigarette, die erste seit zehn Tagen. „Ey, die schmeckt gerade so geil“. Er grinst seine „Shelly Family“ an, die Bandkollegen grinsen zurück, die Zigarette scheint sie nicht zu überraschen.
Nach so einem Auftritt wirkt er zufrieden mit seinem Leben als Berufsmusiker. Doch er weiß, dass es auch andere Zeiten geben kann. Phasen, in denen es nicht so gut läuft wie bei diesem Auftritt auf dem Dockville und in denen er weiter in der Leipziger Kneipe ackert. Aber das ist okay für ihn. Denn was er nicht möchte, ist das krankhafte Streben nach Perfektion, das so oft in der Musikbranche gefordert wird. „Ich will Fehler machen und offen dazu stehen“, sagt er. Seine Band gibt ihm dabei Rückhalt. „Weißt du, gerade hier, wo wir miteinander reden, finde ich eigentlich alles voll in Ordnung“, sagt er in einem letzten Gespräch. „Ganz genauso, wie es jetzt ist“.