Drei Powerduos und die Reinkarnation von Natas Loves You
Ein Jahr ist das letzte France With Benefits her. Ein Jahr hat es gedauert, bis sich Natas Loves You in Human Tongues verwandelt haben. Seit November 2016 machen drei der ehemaligen Mitglieder unter neuem Namen alte Musik. Zuerst aber drei Duos aus drei frankophonen Ländern, die angenehm abseits der heute angesagten Gitarrenmusik – versonnenscheinter Mac DeMarco Pop oder eiskalter Post-Punk – ihrem jeweiligen Gefrickel frönen.
Den Anfang machen La Jungle. Mathieu Flasse und Remy Venant stammen aus dem belgischen Mons (deutscher Name: Bergen) und brauchen für ihre Musik laut eigenen Angaben nur „sechs Saiten und vier Tonnen“. Klingt simpel, aber wenn uns Hella, Two Gallants und Royal Blood (ersetze Gitarre durch Bass) etwas gelehrt haben, dann dass so eine Besetzung ordentlich knallen kann.
Mons ist seit 1967 Sitz des SHAPE, des Hauptquartiers der NATO. Gleichzeitig war die knapp 100.000 Einwohner umfassende Stadt im frankophonen Teil Belgiens 2015 Kulturhauptstadt Europas. Die Musik von La Jungle klingt ähnlich schizophren, militärische Präzision und Gewalt führen zu vertracktem Math Rock und schließlich zu krautigen Trancezuständen.
La Jungle haben bereits zwei Alben auf dem Buckel, im April folgte eine Splitsingle mit der französischen Band Lysistrata. Die Paarung ist nur folgerichtig, das Trio aus Saintes ist die straight punkige Entsprechung zum verkopften Geknüppel der Belgier. Weitere Gemeinsamkeit: Beide Bands reißen live alles ab, oder wie es die Kollegen von Europavox beschreiben, „Booooom!“
Weniger heavy, aber nicht weniger interessant ist die Musik von Cosse. Das Pariser Duo besteht aus Nils Bö an Gitarre und Gesang und Arthur Vonfelt am Schlagzeug. Obwohl Letzterer live auch mal mitsingt, die bei so einem Line-up notwendigen Pads bedient oder sich eine zweite Gitarre schnappt. Die Band ist noch blutjung, bisher gibt es gerade einmal zwei Songs zu hören. Von i-D wurden Bö und Vonfelt jedoch schon in die Pariser „classe 2017“ aufgenommen, wo ihre Gitarrenmusik neben Sentimental Rave, Tshegue und Kodäma etwas einsam da steht.
Es ist aber nicht nur die Tatsache, dass sie unter all den elektronisch-tanzbaren Newcomern als Anomalie auftreten, die sie attraktiv macht. Wer Cosse einmal live sieht, dem fällt sofort das unerwartet jazzige Drumming Vonfelts auf. Die Songs entwickeln sich fließend und sind trotz regelmäßiger Ausflüge ins Nirvana (ba-dum tss!) oft ziemlich gefühlvoll.
Wenn man auf den Sound von Slint und Konsorten steht, wird man leicht Gefallen an Cosse finden. Das Duo schreibt gerade am Debüt, das aller Voraussicht nach im nächsten Jahr erscheinen wird. Wollen wir hoffen, dass wir bis dahin noch ein paar ihrer Songs entdecken dürfen.
Über dem Teich findet man Verwandtes. Während man bei Cosse jazzigere Slint raushört, bieten Le Havre außer einer leichten Ähnlichkeit mit Menomena (die Drums machen’s) nicht viel Vergleichspotential. Über originellen Schlagzeugrhythmen entfalten sich wahrhaft ungewöhnliche Klänge; der Track „Derniers miles“ gehört mit zum Weirdesten, was aus Kanada hierhergeschwappt ist. Und das schließt Grimes, Doldrums und Weird Al ein. Ein bisschen Jazz können sie auch, in „Copy Paste“ dräut ein Altosaxophon im Hintergrund bis zum Ausbruch im Solo.
Die beiden Montrealesen haben letztes Jahr ein erstes Album namens Trajectoires veröffentlicht, dem vier oder fünf EPs vorausgegangen waren. Bis auf zwei Liveversionen sind bis jetzt noch keine Albumauszüge mit Video versehen worden. Aber gut, man kann sich ja auch mal mit dem Kopfkino begnügen. Das funktioniert bei Le Havre ausgezeichnet, allein der außerirdische Klang der Gitarre tönt die Szenerie ihrer Songs in die schillernden Farben von Ölschlieren auf Beton.
Charles-David Dubé und Olivier Bernatchez schrecken auch nicht davor zurück, Hip-Hop Beats und Violine in ihren unklassifizierbaren Art Rock zu mischen, wie auf dem schönen „Rollablade“ mit Mon Doux Saigneur am Mikro. Die häufigen Harmoniewechsel lassen den Popappeal seltsamerweise unberührt. Und spätestens wenn auf dem Albumcloser „Ouragan“ Mehdi Cayenne seinen Quebecer Akzent erst entspannt, dann bewegt über die Textur des Songs setzt, will man nur noch nach Montreal und abschalten.
Zum Schluss noch ein Wort zu Human Tongues und heute angesagter Gitarrenmusik. Die Franzosen haben nämlich ihren alten Namen zugunsten eines weniger interessanten aufgegeben, sowie ihre alte Musik zugunsten ebenso alter, aber deutlich spannenderer. Als Natas Loves You klang das nach so vielen anderen französischen Indie Pop Bands, etwa Gush oder Lily Wood & the Prick. Zwei Jahre später schöpft die Band, die aus der Asche von Natas hervorgegangen ist, aus dem unerschöpflichen Pool an ’70s-Beatles-Reminiszenzen. Jetzt klingen sie wie Temples, Pond, Tame Impala.
Der (erste) Witz ist: Human Tongues machen allein durch ihre Auswahl an Einflüssen schon mehr Spaß. Das Songwriting ist nicht so originell wie zum Beispiel das von Biche, aber die Ausführung so gut gelungen, dass man über die Konzerte hinaus Lust auf die Musik hat. Bis jetzt gibt es nämlich nur eine Studioaufnahme, das gestern veröffentlichte „Fraud Syndrome“. Und in Songtitel und Bubba Ho-Tep-Video steckt der zweite Witz. Ihr mögt lachen, aber Human Tongues haben’s drauf.