France with Benefits #1: La Souterraine

Eine Einführung in den französischen Untergrund

Bienvenue à France with Benefits! In dieser neuen Serie werden wir euch einmal im Monat die Musikwelt Frankreichs näherbringen, mit seinen unterschätzten Bands, coolen Labels und interessanten Initiativen. Unsere Nachbarn haben nämlich mehr zu bieten als nur Daft Punk, Phoenix und David Guetta. Den Anfang macht La Souterraine, eine in unregelmäßigen Abständen erscheinende Compilation, die über Genregrenzen hinweg unbekannte französische Künstler einem breiteren Publikum bekannt machen will. Die Compilations gibt es auf Bandcamp zu hören, man kann sie sich auch zu einem selbst gewählten Preis herunterladen; Volumes 1-4 gab es bis vor kurzem sogar als schickes Boxset im CD-Format, welches inzwischen ausverkauft ist. Dass die Presse das Projekt als „Jungbrunnen für den französischen Pop“ feiert, liegt da auf der Hand.

Die Idee zu dieser Rubrik kam mir vor einem halben Jahr bei der Lektüre eines ausführlichen Artikels von Slate über La Souterraine (nachzulesen hier, allerdings auf Französisch). Mit Kommentaren von auf den Comps vertretenen Künstlern und Erklärungen der Macher beschreibt Maxime Delcourt La Souterraine und das Team um Benjamin Caschera, das dahinter steckt. Caschera ist der Chef des Indie-Labels Almost Musique und hat zusammen mit Benjamin Fain-Robert, der als Baron Rétif ziemlich wirre Musik macht, sowie Clément Haslé und Laurent Bajon zuerst die Compilation-Reihe MOSTLA-Tapes ins Leben gerufen. An deren Vorbild orientiert sich auch die französische Version, La Souterraine. „Wir suchen im Dunkel, unter der Oberfläche [dans les souterrains], im Underground. So kommt man dazu, von den Bands zu reden, von denen niemand redet“, so Caschera. Kleine Bands werden gefördert, was den vier Franzosen gefällt, geben sie an ihre Landsleute weiter. Vor allem soll lokalen und auf Französisch singenden Künstlern eine nationale (vielleicht sogar internationale) Bühne gegeben werden, ohne die Restriktionen der Musikindustrie – einfach, umsonst und um der Musik willen. Long story short: Die Souterraine-Compilations funktionieren nach den Grundsätzen, die mir selbst als Schreiber für the Postie am Herzen liegen. Denn ohne einen blühenden Underground läuft die Musikwelt Gefahr, zu stagnieren.

souterraine klein
Das Cover der Souterraine, Vol. 7.

„Der Underground in Frankreich ist komplett atomisiert,“ so Caschera. „Es gibt eine Vielzahl von Szenen, […] die nur sehr wenig untereinander kommunizieren. Unsere Absicht ist, eine unterirdische Brücke zwischen den Szenen zu schlagen. Dass die Musik in Umlauf ist, das ist das Essentielle.“ Er will eine „zukünftige Archäologie der französischen Musik“ etablieren. Nicht zuletzt aus Liebe zum Land und seiner Kultur werde ich ihm dabei helfen. Fakt ist nämlich, dass bei unseren Nachbarn ziemlich viel hörenswerte Musik gemacht wird, die ich euch nicht vorenthalten will. Etliche Blogs und Microblogs in Frankreich loben die Compilations nicht nur für ihr Undergroundethos, sondern vor allem für die musikalische Qualität der Songs. Im Mai hat La Souterraine bereits die siebte Kollektion in anderthalb Jahren online gestellt. Nach einem Monat exzessiven Hörens nun ein paar Höhepunkte aus La Souterraine, Vol. 7.



Aquaserge: Virage Sud (Demo)

Aquaserge gehören wahrscheinlich mit zu den bekanntesten Bands der Compilations. Vol. 3 eröffneten sie mit einer gekürzten Version ihres Songs „A l’amitié“ von der gleichnamigen zweiten LP, hier sind sie mit einer Demo namens „Virage Sud“ vertreten – wieder an erster Stelle. Julien Barbagallo und Julien Gasc – beide haben schon solo Songs auf La Souterraine veröffentlicht, Gasc ist seit Vol. 1 dabei – haben vor zehn Jahren in Toulouse mit Benjamin Glibert Aquaserge gegründet. Inzwischen hat die Band mit Acid Mothers Temple und April March kollaboriert, Stereolab auf Tourneen begleitet (Gasc ist seit 2008 Mitglied der Post-Rock Pioniere, deren Sängerin Lætitia Sadier auch schon auf La Souterraine zu hören war), vier EPs und zwei Alben veröffentlicht und ist mit der Bassistin von Melody Prochet zum Septett gewachsen. Ende Mai haben Aquaserge beim Sound City Liverpool Festival und in Nîmes beim TINALS gespielt.

Wenn ihr unsere Alternative Jahresbestenliste gelesen habt, erinnert ihr euch vielleicht noch an Aquaserge. Neben A l’amitié haben die Toulousains im letzten Jahr die gute und verdammt lustige EP Tout arrive herausgebracht. „Virage Sud“ ist ein neuer Song und schlägt in die gleiche experimentelle Kerbe, ist aber gleichzeitig etwas ernster. Die Krautrock-Einflüsse treten deutlicher zutage, der Song klingt wie Neu! mit Quintolen (und wie oft hört man sowas bitte in zeitgenössischer Rockmusik?), bis aus jenen Quintolen der übersteuerte Synthesizer von „High Class Slim Came Floatin‘ In“ hervorspringt. „Virage Sud“ ist zwar instrumental, spricht aber Bände über den kreativen Status Quo des französischen Undergrounds.


Alphatra: La Fuite

Beim nächsten Song sind die Informationen quasi nicht-existent. Die Band heißt Alphatra, kommt aus Paris und gruppiert sich um Sänger Loïc Pouliquen. Die Schlagzeugerin ist Marion Brunetto, die bei Les Guillotines spielt und mit ihrer eigenen Band Requin Chagrin schon auf der Souterraine, Vol. 5 vertreten war. Ansonsten findet man im Internet außer enigmatischen Zeichen nur „La Fuite“, den einzigen bisher veröffentlichten Song.

Wem Indochine in Deutschland ein Begriff ist, wird sich schonmal auf die nächste Jugendsensation aus Frankreich einstellen können. „La Fuite“ ist Punkrock mit Popgefühl von circa 1984, den frühen Songs der Ärzte oder der Hosen gar nicht unähnlich. Und dann klingt Pouliquen sogar noch wie Nicola Sirkis!


Arlt: De plein fouet

Mit Arlt („arltö“ ausgesprochen) sind wir in der tatsächlichen Chanson angekommen. Eine Akustikgitarre bietet die Basis für den federleichten Gesang von Sing-Sing und Eloïse Decazes, die als Arlt schon zwei Alben produziert haben. Der Ausdruck „de plein fouet“ bedeutet soviel wie „mit voller Wucht“; das unbekümmerte Gesäusel des Duos ist dagegen so klischeehaft chansonesque, es ist fast schon parodistisch.

Wer nun aber denkt, „De plein fouet“ sei deshalb langweilig, der irrt gewaltig. Mit minimalen Veränderungen und einem am Rande der Wahrnehmung kreisenden Trillern wird man auch bei aufmerksamem Zuhören immer unterhalten. Der halbe Takt nach dem Refrain und das gedämpfte Gitarrensolo (wenn man es überhaupt als solches bezeichnen kann) zeigen, wie man mit den richtigen Mitteln selbst ein so simples Lied wie dieses interessant halten kann. Arlt machen für die französische Chanson das, was Metronomy gerade für den Synthpop machen.


Sahara: Délice

Wie wichtig Broadcast für die Entwicklung von indietronischem Pop waren, wird mit der Zeit immer deutlicher. Auch Sahara, eine ganz junge Band aus Bordeaux, orientieren sich ohrenscheinlich an Haha Sound und Tender Buttons.

„Délice“, der erste Song, den uns das Quartett um Blandine Millepied vorstellt, blickt anfangs noch zaghaft in die Morgensonne. Tau hängt in der Luft, eine friedliche Szenerie zeichnet sich ab. Gitarrist Jérémy Lacoste beendet Millepieds Sätze, die Electrodrums knistern vor sich hin. Bis die vier Musiker in der Mitte des Songs aus dem Unterholz brechen und den Wald mit ihrer Psychedelia erfüllen. Am Ende heißt es nur noch „délice! délice!“


Strasbourg: Jésus

Die Töne, mit denen uns Strasbourg aus Bordeaux (wäre ja auch zu einfach gewesen) angreifen, sind nichts Neues. Wütende Drums und ätzende Synths formieren sich zu industriellen Gebilden. Sänger Mickaël „Monsieur Crane“ Appollinaire hüllt sich in Reverb und bedrohliche Monotonie. Der beste Vergleich für Raphaël Sabbath, Kopf hinter Strasbourg, wäre Luis Vasquez von the Soft Moon, der ähnlich finsteren Darkwave-Post-Punk betreibt und in dessen Vorprogramm Strasbourg schon gespielt haben. Die andere Hälfte der Band sind Tamara Goukassova an der Geige und Jonathan „LL CoolJo“ Marinier an den Synths.

„Jésus“ ist der erste noisige Vorgeschmack des Debütalbums Fruit de la Passion, das vergangenen Freitag erschienen ist. Ihr solltet euch auch unbedingt mal die anderen bereits veröffentlichten Songs reinziehen, mein Favorit: der Reggaeton-Bastard „Les Mouettes“, der den gleichen kann-nicht-klappen-tut’s-aber-Effekt erzielt wie Sable Noir.


La Souterraine, Vol. 7 könnt ihr euch unter diesem Link anhören.


Fichon

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