Prêt à écouter 8: Deerhunter

Als Musik noch nicht Meta war

Bevor ich etwas zu dem ersten Konzert des achten Prêt à écouter Festivals schreiben kann, muss ich eine Sache klarstellen: Ich bin kein Deerhunter Fan. Klar, ich habe vor dem Konzert im Karlstorbahnhof meine Hausaufgaben gemacht. Aber trotzdem ich mir Monomania und Halcyon Digest über die Jahre immer wieder angehört habe, konnten mich Bradford Cox und seine Jugendfreunde nie wirklich überzeugen. Warum, konnte ich bis vorgestern nicht sagen.

Bevor ich mich erneut der Band und meinem Unverständnis ihrer enormen Anziehungskraft – der Karlstorbahnhof ist brechend voll – widmen kann, spielt Cox als Atlas Sound die Vorband. Viel elektronischer klingt das, mehr nach einer Ein-Mann-Version von Beach House. Oder, wie ein Zuschauer sagt: „Das könnte auch von dem David Lynch Album sein.“ Der hagere Cox weiß durchaus, wie man Atmosphäre schafft. Selbst zu diesem Zeitpunkt ist der Saal gut gefüllt, auch wenn Atlas Sound nicht mit dem Material von Deerhunter mithalten kann und Cox‘ Charisma noch nicht zum Vorschein tritt.

Jenes Charisma ist einer der Gründe, weshalb Deerhunter live nicht mit den Alben-Deerhunter zu vergleichen sind. Entgegen der Maxime „Traue nie einem Mann, der eine Trucker Cap trägt“ schafft Cox immer wieder, das Publikum für sich zu gewinnen, indem er Geschichten erzählt und Fassbinder zum besten Filmemacher des 20. Jahrhunderts erklärt. Er weiß, dass ein guter Frontmann nicht nur Songs ansagt, sondern den Zuschauern das Gefühl gibt, er sei ein alter Freund. Während das Quartett zu Anfang noch durch die Songs rast und das Konzert zu einer kurzweiligen Erfahrung macht, nutzen sie die zweite Hälfte, die Zuschauer mit ausgedehnten Jams davon zu überzeugen, dass sie mehr sind als eine einfache Liveband. Was bei „Desire Lines“ auch auf Platte klappt, funktioniert bei den meisten Songs nur auf der Bühne: Die Band aus Atlanta, Georgia braucht Raum, Songs wie „Fluorescent Grey“ oder „Agoraphobia“ zu entfalten. Bei ersterem Song holt Cox sogar noch einen Zuschauer auf die Bühne, der die Gitarre in die Hand gedrückt kriegt und zur Geräuschkulisse beiträgt. Währenddessen stürzt sich der Frontmann auf sein Keyboard und richtet damit wohltuendes Unheil an.

Man fühlt sich um 20 Jahre zurückgeworfen, in eine Zeit, als Musik noch nicht Meta und „post rock“ war, nach Loveless und vor Kid A. Die Einflüsse von My Bloody Valentine treten live besser zutage, das Drumming von Moses Archuleta gibt der Musik manchmal eine krautige Kante. Eine weitere große Erkenntnis ist, dass ein Konzert von Deerhunter ziemlich noisy ist. Plötzlich erinnert Cox an Thurston Moore, der ebenfalls früh seinen eigenen Weg finden musste und auf ähnliche Weise den Eindruck vermittelt, machen zu können, was er will, ohne sich zu sorgen, was dabei herauskommt. Das werden mir später auch Archuleta und Gitarrist Lockett Pundt bezeugen, die schon seit Anfang an bzw. seit dem zweiten Album dabei sind. Dass Cox der Motor von Deerhunter ist, bestreiten sie nicht, aber sie sind mehr als nur seine Backing Band. Ob sie sonst so mühelos zwischen Songs von ihren EPs und dem neuen Material von Fading Frontier hin- und herwechseln könnten, kann man bezweifeln.

Die Zuschauer jedenfalls sind begeistert und dieser Rezensent ist es auch. Die Albumversion von „Agoraphobia“ ist nur ein Echo der Freiheit, mit der sie live spielen. Die letzte Band, die rückwärts gewandte Rockmusik so selbstsicher und scheinbar ohne körperliche Grenzen gespielt hat, war Ought – ebenfalls im Karlstorbahnhof und ebenfalls Auslöser einer Epiphanie. Ich bin zwar immer noch kein richtiger Fan. Die nächste Tournee werde ich mir aber auf keinen Fall entgehen lassen.

Setlist:

Desire Lines
Breaker
Duplex Planet
Revival
Don’t Cry
Living My Life
Rainwater Cassette Exchange
All the Same
Take Care
Nothing Ever Happened

Ad Astra
Fluorescent Grey
Cover Me (Slowly)
Agoraphobia

Deerhunter live beim Pitchfork Music Festival Paris:

http://www.dailymotion.com/video/x3ag66o_deerhunter-full-concert-live-pitchfork-festival-2015_music


 

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